Vor dem Spiegel

Erschrocken das eigene Antlitz betrachten.
Die Spiegelfläche von Kratzern übersät.
Früher war der Anblick ein Frühlingsgefühl.
Nichts davon geblieben, nur noch Demut mit Schmerzen.

Zeit ist gnadenlos.
Lässt uns erblühen, wenn es ihr gefällt.
Nimmt uns den Mut, wenn sie eilt.
Dankbar hoffen wir auf ein kurzes Verweilen.

Doch sie rennt davon, kann nicht bremsen oder bleiben.
Gerade erst geborene Gedanken müssen weichen.
Alle zum gleichen Takt gezwungen.
Der Spiegel ungerührt, lässt die Augen nicht erstrahlen.

Natur zeigt sich unberührt von dieser Wahrheit.
Der Mond zieht seine Bahnen, lässt Gezeiten strömen.
Jahreszeiten noch so schön, befolgen ihre Wechsel.
Wolken sammeln sich oder zerreißen, unbeeindruckt wo der Zeiger steht.

Und doch ist der Spiegel mit seinem brüchigen Rahmen wie ein Freund für mich.
Als Kind Grimassen gezogen.
In der Jugend Stunden davor verbracht.
Im Alter den Charakter studiert.

Stehe heute noch oft meinem Spiegelbild gegenüber.
Stelle stumme Fragen.
Wie diese: Kann man Liebe erfinden?
Mir ist, als hätte er leise gelacht.

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