Die Reisende

Mitten über der Riesenmetropole des Landes tobt ein erbitterter Kampf des Hochs Albert mit dem Tief Nora und alle

Schlafenden der Nacht, die nichts davon ahnen können, würden sich sehnlichst eine Entscheidung vor dem

Morgengrauen wünschen. Die letzten Tage vebreiteten eine Weltuntergangsstimmung, die selbst die tapfersten

Optimisten nicht mehr unbeschwert ertragen konnten. Der tief dunkle Himmel hatte den Städtern eine Gefühllosigkeit

aufgezwungen, bei der man die Zeit kaum noch nach Tag und Nacht unterscheiden konnte.

Diese geschlossene, undurchdringlich scheinende Wolkenbildung vermittelte den Eindruck, als wären sie allein das

Universum und eine Existenz darüber hinaus könne es nicht geben.. Die Einzigen, die dieses Wetterschauspiel verfolgen

können, sind die Straßenkehrer, die wie jede Nacht mit gesengtem Kopf und müden Blick, den Unrat des Tages in ihre

Behältnisse auffegen und mit ihren angespitzten Spezialstangen aufpicken. In ihren neuen grauen Arbeitsoveralls, die

erst in der letzten Woche die frischer wirkenden Orangenen ersetzt hatten, was nach einer langen Streitrunde im Rathaus

mit knapper Mehrheit befürwortet wurde, sehen die Männer und Frauen bei ihrer Arbeit, die so wenig Wertschätzung

erfährt, noch gedrückter und beinahe stumpfsinnig aus. Die Gegner dieses neuen Bekleidungsdesigns mussten, die

gewesen sein, die sich die Sache auch mal bei Nacht beleuchtet hatten. Nicht nur dass das flammende Orange die

Sicherheit bei der Straßenarbeit erhöht, hätten die Befürworter der Grauvariante dann bemerken müssen, sondern, wenn

sie in die zumeist unrasierten Gesichter der überwiegend männlichen Mitarbeiter geschaut hätten, wären sie sicher auf

den Gedanken gekommen, dass man diese meist vom Leben gezeichneten Menschen, nicht noch um den kleinen

aufhellenden Farbtupfer bestehlen darf.

Von solchen existenzmildernden Gedanken bleibt der pompöse Vorort “Zur Höhe“ verschont. Auch die wesentlich

dünnere Wolkenschicht vermittelt den Eindruck, dass hier die vom Leben Verwöhnten ihr Domizil haben müssen. Es ist

auch nicht nötig, dass Kehrgeschwader in die wie geleckt aussehenden Straßenzüge der Wohlhabenden zu entsenden.

Der Schmutz wird wie durch ein unsichtbares Schutzschild fern gehalten und es ergibt sich wie ein ungeschriebenes

Gesetz, dass kein Schmutzfink sich in diese Gegend verirrt. Selbst die Wege sehen unbenutzt aus, als würden die

Anwohner darüber hinweg schweben. Tatsache ist, dass es einer Verschwendung gleicht, wie eintönig die Wege,

Rabatten, Brunnen und Brückchen verwaisen. Niemand bewegt seine Fuß aus den Villen, um nicht schnurstracks auf

Mosaik gepflasterten Wegen zu einem Garagenpalast, der im entgegen gesetzten Vorort der Bedürftigen gut zu einer der

vielen fehlenden Turnhallen umgebaut werden könnte, zu eilen. Selbst die Kinder werden in diesen märchenhaften

Überfluss einbezogen und sind bei einem späteren Fall nicht mit Vernunft gewappnet. Jeder Gang in dieser

eingezäunten, heilen Welt wird mundgerecht chauffiert.

Auf diesen Wegen gibt es nur eine Abweichung, einen Fußabdruck Größe achtunddreißig, der einsam auf dem Pflaster

seine Spur hinterlässt. Immer endet diese ungewöhnliche Seltenheit vor einem Tor an der von Linden gesäumten

Strasse. Jede der genau dreiundzwanzig Linden ist eine stille Sehenswürdigkeit. Keine Verästelung ist mit der anderen

vergleichbar und die abgestorbenen Triebe bilden bei jedem Baum eine andere bizarre Form an Buckeln über die die

einzig Gehende des Vorortes Wissen erheischend fühlen möchte. Sie bildet sich ein, das jedes Bückelchen mit einer

Geschichte behaftet ist, die nur es selbst kennt und während des kurzen Wachstumsversuches beobachtet hat.

Nicole Stüber ist nicht nur äußerlich eine Abweichung des Viertels. Ihre gesamten Gewohnheiten stehen nicht im

Einklang mit der sterilen Stupidität ihrer meist arroganten Nachbarn.

In den letzten Tagen ist sie getreu ihrem Grundsatz, aus jeder Situation das Beste zu machen, dem grausigen Wetter

nicht ausgewichen. Im Gegenteil hat es sie in ihrer Phantasie beflügelt, bei der fast alles ausschließlich um Reisen und

ferne Ziel kreist. Mit dieser Verrücktheit ist es ihr geglückt eine recht beachtliche Anzahl Männer zu verschleißen und

immer wieder aus ihrem Leben zu vertreiben. Der letzte Unglückliche hat ihr wenigstens das Glück der Lebenssicherheit

durch ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Mit diesem Paul hatte es eine eigentümliche Bedeutung , die so

überhaupt nicht in das bisherige Raster von Nicole eingeordnet werden konnte.

Nicole ist keine schöne Frau, so bald sie aber spricht und irgendetwas an ihr in Bewegung versetzt wird, steigt sie zu

einer Erscheinung auf, von der man den Blick nicht lassen will. Mit ihren langen, zerbrechlichen Finger strahlt sie eine

Atmosphäre aus, die jedes Wort unwichtig werden lassen. Schüttelt sie dazu ihr volles Haar entsteht eine Aura der

Wildheit und Leiden-schaft, die auch den Hartgesottensten in Verwirrung und Unbeholfenheit geraten lassen. Wer es

einmal gewagt hat sich dieser Frau in ihrer Ruhephase zu nähern, kann sich von selbst nicht mehr aus der erwachten

Agilität dieses Weibes entfernen. Nur sie selbst weist den Weg und öffnet die Schranke, wenn ihre Laune und ihr

Befinden es so entscheiden. Paul der sich dieser unausweichlichen Kraft bereits bewusst war, als er sie das erstemal

auf sein Kopfkissen betten durfte, hatte nur noch den Wunsch in dieser Frau ertrinken zu dürfen, bevor er von ihr lassen

müsste.

Nicole gefiel der vermögende Mann auf den ersten Blick. Sie verglich einen neuen Versuch nie mit einem Vorgänger

und kostete stets Unbekanntes bis zur Sättigung aus. Sie ist eine ungezügelte Egoistin, die benutzt und vergisst was ihr

gegeben wurde. Alles betrachtet sie als selbstverständliche Geschenke an ihr Lebensglück. Ihr Hunger nach ständig

neuen und immer skurrileren Erlebnissen und Abenteuern steigerte sich von mal zu mal.

Am Anfang ihres Reisewahnsinns hatte sie begonnen die Wegstrecken ausschließlich zu Fuß zurück zulegen. Diese

Eigenschaft ist ihr bis heute erhalten geblieben, weshalb sie von den begüterten Nachbarn auch nur mit Unverständnis

akzeptiert wird. Ihre Fußmanie steigerte sich soweit, dass sie dazu überging die Strecken barfuss zu bewältigen. Der

damalige Gefährte, ein vogelkundlich bewanderter Oberlehrer, war Feuer und Flamme mit dieser wie entfesselt

reisenden Frau die Welt zu erlaufen. In Indien verbrachten sie die längste Zeit und beeindruckten so manchen

Einheimischen, der sie auf seinem wippenden Elefantenthron vorbei ziehen sah. Enden musste diese Symbiose,

zwischen der feurigen Nicole und dem pedantischen Lehrer, als sie von ihm verlangte, er solle es dem Fakir gleich tun

und zuerst über die Glasscherben treten, um so dann die weichen Fußsohlen im Kohlefeuer zu härten.

Bei allem Unverstand und Willenlosigkeit die er der Zügellosen entgegen brachte, nutze er die erste Gelegenheit um

ihren lebensbedrohenden Verrücktheiten zu entfliehen. Das war nur der Auftakt für eine Fortsetzung von

Unmöglichkeiten, die ein Durchschnittsmensch in den Bereich Märchen einordnen würde. Nicole benutze für ihr

Vergnügen die unterschiedlichsten Charaktere und sonderte auch nicht nach einem bestimmten Bildungsniveau aus.

Die Wechsel schienen  sie selbst frisch zu halten und zeigten keine Anzeichen, dass sie dadurch mürbe würde. Ein

Beweis, dass sie keine Ermüdung kannte, war die Reise mit einem kugelbäuchigen Taxifahrer, der unablässig Witze der

verschiedensten Genre auf Lager hatte,  in das Tag und Nacht erhellte Skandinavien. Nicole nutzte die Polartage, um

sowohl sich als auch ihrem Gefährten keine Ruhepause zu gönnen und schlaflos die Erkundungen in ein schier

undenkbares Übermaß zu treiben. Der Taxifahrer folgte dieser leidenschaftlichen Idee zuerst bereitwillig, seine Hörigkeit

unterschied sich nicht von den bisher Leidenden. Nach fünf Tagen begann seine Physis die Kontrolle zu verlieren. Er

torkelte an den Klippen der Fjorde entlang, als gelte es einen Artistenpreis für besonders waghalsige Attraktionen zu

gewinnen. Sein Äußeres glich nicht mehr dem gemütlichen Taxifahrer der mit zurückgeschobener Schiebermütze zur

Einladung für jeden Fahrgast wird. Jetzt hätte er eher in einer Werbung gegen Magersucht auftreten können. In einem

Fischerdorf konnte er sich taumelnd nicht mehr auf den Beinen halten und viel in die zum Trocknen aufgehangenen

mit Algen und Fischresten verschmutzen Netze. Ohne einen Blick des Bedauerns schritt sie in ihrer grenzenlosen Gier

auf das Weiter und Weiter mit langen Schritt ausholend dem Ort entgegen. Es interessierte sie nicht, dass die Fischer

den Erschöpften erst am nächsten Morgen entdeckten und er zwei Jahre benötigte, um sich von dem Schock zu

befreien.

Bei Paul, dem sie von Beginn an nicht die Gleichgültigkeit wie gegenüber den anderen männlichen Werkzeugen

entgegenbrachte, wich sie das einzige und letzte Mal von ihrer Fußverrücktheit ab. Paul war ein fanatischer und

begnadeter Segler. Noch vor ein paar Jahren nahm er am Admiralscup teil und genoss es, wenn sich die Meeresgischt

auf ihrem Höhepunkt über das gesamte mit bestem tropischen Holz beplankte Deck ausbreitete. Voller Stolz und Liebe

verschwendend war seine Betrachtung, wenn er am Abend auf der Reling stand nur beleuchtet vom kreisenden Licht

des blau weiß geringelten Leuchtturms und das Messinggeländer mit seinen niedlichen Kugelköpfen auf die

Wasseroberfläche zurück blitzte.

Als passionierte Junggeselle und Verfechter der Ansichten eines Professor Higgins bevor er bedauerlicherweise in

Elisas Fängen untergegangen ist, kam es ihm auch nicht in den Sinn, dass etwas geschehen könnte, was ihn aus seinen

unerschütterlichen Gewohnheiten heraus reißen könnte. Eher würde der Achtermast seiner Yacht brechen, bevor sein

Herz einen weiblichen Knackser bekommt. Doch er hatte sich verrechnet. Er konnte nicht wissen, dass ihn der Anblick

Nicoles mit ihrem federleichten Schritt über die Mole hüpfend in eine unerklärbare Anspannung versetzten würde. Auch

die Befragung seines Verstandes konnte dem so angenehmen Rätsel nicht näher rücken. Der Zufall wollte es, dass auch

Nicole sich gern durch das beruhigende Schaukeln der Boote aufhalten lies. Das waren die entscheidenden Minuten, in

denen beide die Gelegenheit nutzten ihre gegenseitige Betrachtung zu vertiefen.

Paul erkannte, ohne dass es ihn peinlich berührt hätte, mit welcher forschenden Ungeniertheit ihn diese geheimnisvolle

Frau in Augenschein nahm. Aber auch er konnte nicht von ihr lassen und empfand Freude darüber, als sie mit einem

göttlichen Lächeln näher kam, lässig das braungebrannte Bein auf seine blank geputzte Reling aufsetzte und mit einer

unwiederhol-baren Handbewegung, die den ganzen Körper in eine Schwingung versetzte und die gesamte Haarpracht

in ihrer Fülle nach hinten in ein Nichts entfliehen lies. Es blieb nur ihr klares Gesicht und er hätte nicht beschreiben

können, worin die Schönheit bestand, die er in diesem Moment empfand. Es fiel nicht ein einziges belangloses Wort

zwischen ihnen, denn jeder von Beiden spürte, es würde geschehen, wenn nicht heute, dann morgen. Sie glitten in

seine Kabine, die noch nie ein weibliches Wesen aufnehmen durfte, hinab und tauchten ein in die zeitlose Wollust der

Liebenden, die einander ohne Bedacht zugefallen sind.    

Sie nahmen sich keine Zeit ihr Glück zu unterbrechen, nur etwas Proviant gestatten sie sich noch. Dann begann eine

ziellose Reise und es wurde kein Gedanke an das ungewissen Ende vergeudet. Ihre Beine, die keine Ruhe gewöhnt

waren und sich auch keine gönnen wollten, waren gefangen auf den wenigen Metern des Bootes. Doch sie empfand es

nicht als Verdammnis, noch dass sich überhaupt ein Wechsel in ihrem Lebensrhythmus vollzogen hat. Es war eine

unbekannte Zufriedenheit, die ihr durch das Boot und die Bücherschätze von Paul beschert wurde. Das gegenseitige

Zitieren köstlicher oder auch tiefschürfender Textpassagen wurde zu ihrem liebsten Zeitvertreib und ließ sie noch näher

zusammenrücken. In der Südsee führten sie ein Leben, wie es nur sein Namensvetter Paul Gaugin verstanden haben

muss zu leben.

Die Palmen waren für sie die stummen Menschen, denen sie glücklich entronnen sind und der Sand war das Spielzeug

ihrer Hände, der Ofen ihres Körpers und die lustvolle Ruhestätte der Nacht. Hatten sie die umliegenden, üppig

bewaldeten Felsen genug genossen, kehrten sie auf ihrer Nussschale allem den Rücken zu, flohen in die Weite des

Meeres, dem untergehenden Sonnenball entgegen, um am nächsten Tag in eine neue Idylle einzutauchen. Kein

Außenstehender wird nachvollziehen können, wie die Besessenheit zweier so unterschiedlicher Lebensvorstellungen

zu einer Einheit verschmelzen konnten, als wären Romeo und Julia auferstanden.

Unbeirrt des Kommenden setzten sie ihre Odyssee fort und ließen sich schwelgend in der gegenseitigen Anbetung auf

dem Ehrerbietung fordernden Nil treiben. Sie fühlten sich wie durch einen Zeittunnel geschleudert in einer längst

vergangen gedachten Welt wieder. Ihr Dahintreiben auf dem an Breite nicht abschätzbaren Fluss unterbrachen sie selbst

nur durch die Lust, das fruchtbare Spiel der Liebe mit nicht erlahmender Intensität und vom spontanen Einfallsreichtum

belebt fortzusetzen. Sehr selten nahmen sie die Außenwelt wahr, wenn die uralten Holzkähne von den rauhäutigen

Besatzungsmitgliedern durch lange, verwitterte Holzstangen weiter gestoßen wurden. Dem winkenden Gruß der

schwerarbeitenden Menschen aus einer fremden Welt begegneten sie mit einem himmelsgleichen Lächeln, was ihnen

zu rief, wir sind nicht wie ihr, denn keiner kann so viel Glück erfahren wie wir. Auch an den Feldern, die von tiefen Gräben

durchschnitten wurden und bedürftig am Tropf der großen Flussader das Wasser für die Pflanzen verzehren, schauten

sie wie auf einer Wolke schwebend den in gebückter Haltung arbeitenden mit Strohhüten bedeckten Menschen zu.

Bei einsetzender Dämmerung steuerten sie einen der zahlreichen, romantisch verschlungenen Seitenarme an. Denn der

trügerische Fluss kann durch ein unberechenbares Anschwellen seines Wasserlaufes einhergehend mit einer

urplötzlichen aufkommenden Brise zu einem gewaltigen Element werden und alles darauf Befindliche wird zum Spielball

des tobenden Wassers. Daran war aber nicht zu denken, als sie dicht an den über das Ufer ragenden Bäumen ruderten

und es strömte ihnen ein sinnenbetäubender milder Luftstrom entgegen, der Nicoles Halstuch schmeichlerisch

umfächelte. Das Tuch war ein Geschenk von Paul, das sie auf dem Markt von Marakech erworben hatten. Das bunte

Treiben der nicht mehr überschaubaren Stände mit dem stechenden Geruch unbekannter Gewürze, der Mustervielfalt

handgewebter Teppiche, zinngeschlagener Becher, Vasen in allen schmalen und dickbäuchigen Formen hatte einen

erdrückenden Eindruck bei ihnen hinterlassen. In diesem vielstimmigen Marktgeschrei, wo man das Gefühl hatte einer

wolle den anderen abmurksen, was für den Europäer täuschend echt zum Erschrecken führt, woran man sich nach drei

durchkämpften Reihen sehr rasch gewöhnt hat und in die einheimische Selbstverständlichkeit des Wirrwarr und der

Feilscherei einstimmt. So kämpften sich die beiden in dem Gedränge vorwärts. Plötzlich wurde es Nicole kühl auf den

unbedeckten Schultern und als ihre Hand an die fröstelnde Stelle griff, fühlte sie ein hauchdünnes Gewebe zwischen

ihren Finger. Ein sehr behaarter, tätowierter Händler mit Ohrringen, die wie ein Bündel Trauben an seinen Ohrläpchen

baumelten, grinste ihnen dienerisch ins Gesicht, um sogleich zu radebrechen, bester Preis für Zaubertuch. Sie fanden

die Leichtigkeit und orientalischen Motive des Seidenschals sehr verführerisch und hätten auch nicht gewusst, wonach

sie ansonsten Ausschau halten könnten. Paul mochte sie so gern mit einer Erinnerung beglücken und weitete das

übliche Handelsritual nicht unnötig aus. Mit ihrer Erwerbung, stolz um Nicoles Hals geschlungen, entfernten sie sich

zügig vom turbulenten Markttreiben und strebten ihrer schwimmenden Insel zu.

Immer noch wehte dieser betörende Fön aus dem Seitenarm in den respekteinflössenden Nil. Pauls Sinne waren ganz

gefangen und Nicoles Profil betrachtend, die hoch gereckt an der Bootspitze kniete, wie eine Nixe an den Galeeren, die

vor hundert Jahren die Menschen aus diesen Ländern als Sklaven entführten, näherte er sich ihr, umschlang ihren Hals

wieder und wieder mit seinen Lippen benetzend. Das Tuch löste sich und weht über Bord. Nicole stieß einen leisen

Seufzer aus, denn ihre Haut hatte sich so an die Seide gewöhnt, dass sie sie bei jeder Bewegung wie einen Liebkosung

spürte. Sie sahen es beide noch an der Wasseroberfläche beschwingt davon schwimmen. Paul sah in Nicoles betrübte

Augen und sprang dem Schal kurz entschlossen nach. Er tauchte unter und konnte es nicht erfassen. Nicole sah wie er

mit einem Ruck in die Höhe geschleudert wurde und im gleichen Moment blitzte eine ungeheuerliche Zahnreihe eines

gigantisch groß erscheinenden Krokodils auf.

Nicole hat das Ende von Paul und ihres eigenen erfüllten Lebens nie verschmerzen können. Sie steht in der Strasse mit

den Linden, die Haare inzwischen kurz geschnitten und keiner könnte sich mehr vorstellen, welche unwiderstehliche

Ausstrahlung von dieser Frau ausgegangen ist. Ihre Hand lehnt an einer besonders kräftigen Linde. Als sie weiter geht

und die Hand zurück zieht, ist an dieser Stelle folgende Einritzung zu erkennen.

 

Stehe ich an diesem unverwüstlichen Baum, will ich immer meines Paul gedenken.

Er hat das Licht und Glück in mein Herz getragen. Er kannte kein Verzagen. Wenn

seine Lippen sich öffneten zum Kusse, bestand die Welt für mich nur noch aus Genuss.

Den Schmerz will ich ihm schenken und an keinen anderen mehr denken.

 

Man hat Nicole, deren Schritt immer schwerer wurde, nur noch selten aus dem Haus über das Pflaster der einsamen

Straßen schleichen sehen. Einzig ihrer Liebe zur Reise ist sie treu geblieben. Wenn auch aus der Ferne, hat sie sich eine

ganz persönliche, bunte Phantasiewelt bewahrt und in den Schlummermomenten am Alkovenfenster schaut sie auf

Pauls Linde und ist der Welt weit entrückt.

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