Die Bootstour

Keiner im Dorf hätte daran geglaubt, dass dieser knochenharte Winter ein Ende nehmen würde. So schön der Beginn war,

als sich bereits im November der Himmel säckeweise mit Tonnen der kleinen weißen Kristalle über der flachen

Landschaft entlud, hat die Dauer der bitteren Kälte in so manchem Gehöft und auf den ohnehin mittelprächtig geteerten

Land-und Feldstrassen erhebliche Schäden angerichtet. Das scheint jetzt, wo auf einen Schlag nach den vielen frostigen

Monaten fast frühlingshafte Temperaturen nicht nur die Schneeglöckchen sprießen lassen, auch zum Gewinner bei der

Gemütseroberung aller Dorfbewohner zu werden. Natürlich schauen sie mit dieser Sonne im Gesicht und der von den

Strahlen erwärmten Brust wesentlich beschaulicher und gnädiger zurück. Da bleiben nur die heiteren Geschehnisse

haften und der Spaß, den vor allem die Kinder an der so seltenen weißen Pracht hatten. Viele hatten zuvor dieses

winterliche Phänomen nur von Bildern oder aus abenteur-lichen Filmen gekannt, um so mehr kosteten sie das

Vergnügen, mit teilweise schnell selbst zusammen gezimmerten Schlittengefährten, aus. Der fast bis auf den Grund

zugefrorene Teich, ansonsten nur die Heimstatt für ein altes Entenpaar, musste einer Dauerbelagerung

standhalten. Da purzelten die wilden Knaben zwischen die Figuren probenden Mädchen und trotz dieses äußerlichen,

quirligen Chaos hatten alle ihr Vergnügen und ergötzen sich entweder an der rasanten Fahrt, die man auf den schmalen

Kufen aufnehmen kann oder die leichten und beschwingten Drehungen wurden bis zum berauschenden Schwindelgefühl

ausgekostet. Selbst den alten Dorflehrer, zu mindestens in den Augen seiner Schüler war der zweiundfünfzig Jährige

schon ein Urgestein, belächelte niemand, als er seine Holzlatten aus Urgroßvaters Zeiten unterschnallte. Keiner besaß

ansonsten winterliche Ausrüstungen, denn für das Vieh und die Felder bedarf es vor allem eines zuverlässigen Traktors,

alles andere ist Schnick Schnack oder Zeitverschwendung. Wenn sie allerdings das skifahrende Urgestein aus der Ferne

beobachteten, wie es schwungvoll über die Felder glitt, war so manches beifällige Gemurmel zu vernehmen. Heiner aus

der obersten Schulklasse war der einzige Waghalsige, der weiter vor schritt, den Lehrer direkt anzusprechen und seine

Neugier zu bekunden. Die beiden fachsimpelten eine Weile laienhaft und Heiner nahm das Angebot an, es doch selbst

zu probieren.

Etwas mühselig gestaltete sich die Anpassung der Bindung, da bei dieser altertümlichen Ausführung erst neue Bohrungen

gesenkt werden mussten. Gutmütig knurrte der Lehrer, nicht nur über den Kopf wächst uns diese Riesenjugend, dazu

haben sie auch noch Quadratlatschen wie Siebenmeilenstiefel.

Heiner ist kein typisches Gewächs seiner Heimat. Für ihn ist das Herumbasteln an den Traktoren und das Reifen der

Ähren nicht alles, was sein Wissenshunger begehrt. Viel lieber strampelt er sich die fünfunddreißig Kilometer zur

Kreisstadt ab. Denn dort befindet sich seine Schatztruhe, die Stadtbibliothek, die er schon von Klein auf in sein Herz

geschlossen hat.

Seine lesemüden Kameraden, können nicht begreifen, wie er, ein super Fußballstürmer, sich lieber zu Hause oder am

Weiher verbarrikadiert und sinnlose Bücher in sich hinein stopft.

Am Anfang las Heiner querbeet, wessen er habhaft werden konnte. Die alten Russen von Dostojewski bis Tolstoi sind ihm

genauso vertraut wie Balzac, Zola und Hugo. Inzwischen wählt er bedachter, weil seine Empfindungen Literatur suchen,

mit der er glaubt sich identifizieren zu können. Dabei probiert er die Amerikaner Faulkner, Salinger genauso aus wie

Heine, Mann oder Fallada. Die Pflichtlektüre des Unterrichts unterfordert ihn und dem Lehrer fällt es schwer, diesen

phantasievollen Knaben auf den Boden zurück zu holen. Er liest die italienischen Reiseschilderungen eines Goethe und

fühlt sich animiert ebenfalls aus der Enge herauszukommen, um zu erkunden, was hinter seinen heimischen Feldern vor

sich geht.

Auch Heiner hat dieser plötzliche Naturumbruch, mitten vom Winter in den Frühlingszauber hinein, mit neuem Schwung

und Unternehmungslust beflügelt. Er macht sich auf zu seinem Weiher, dessen Zugang eigentlich nur für die

Ornithologen, die ab und an aus entfernten Gegenden angereist kommen, vorbehalten ist. Aber wenn er in seinen

Büchern schwelgt, gibt es für ihn keine schönere Begleitmusik, als die Vielstimmigkeit der hier zahlreich versammelten

Vogelwelt. Wenn er sich auf seinem mit Moos gepolsterten Baumstumpf atemlos still verhält, kann er so gar die vorbei

staksenden Störche ein paar Schilfhalme vor ihm verdeckt beobachten, wie sie majestätisch stolzieren, um im nächsten

Augenblick wie aus ihrem überzogenen Stolz erwacht, in dem Tümpel nach einem Fisch oder Frosch zu stochern. Wie

oft hat er im Banne dieser Naturatmosphäre schon von den Masuren geträumt, die ihm von der Großmutter, einer

Vertrieben, in vielen kleinen Geschichten und Anekdoten nahe gebracht wurde. Die Großeltern hatten in einem der

reizvollen Orte mit der direkten Anbindung an einen der unzähligen Seen ein Uhrmachergeschäft betrieben. Heiner weiß,

dass er zu seiner Volljährigkeit, die über Generationen gehütete goldene, feingeschliffene Taschenuhr des Großvaters

erhält. Zweimal, einmal am Todestag des Großvaters und einmal als die Glocken dankbar geläutet wurden, weil das Dorf

von den verheerenden Bränden der umliegenden Felder verschont geblieben war, durfte er miterleben, wie Vater

vorsichtig den Springdeckel der kostbaren Uhr aufschnipste und eine auf einem Spinett ertönende Barockmusik an sein

Ohr drang.

Heiner verehrt Traditionen und Familiengeschichte. Diese Mischung aus Wissensdurst und Achtung vor dem

Vergangenen führen bei Heiner zu dem festen Vorhaben, so bald als möglich das Land der Masuren zu erkunden.

Gerade der unerwartet zeitig aufbrechende Frühling entzündet seinen Elan und vorsichtig tastet er sich zu Hause vor,

dass sie in diesem Sommer nicht mit ihm als Erntehelfer rechnen sollen. Dabei muss er den Weg über die Mutter

wählen, denn sie ist die Einzige, die es bei ihrem Mann schaffen kann, ihn von fest verwurzelten Grundsätzen

abzubringen und zu einsichtigeren Entscheidungen zu bewegen. Nicht ohne Grund hatte sich Heiner zu seinem

letzten Geburtstag ein Kajak gewünscht und zu seiner gossen Freude mit einer riesigen, glattgebügel-ten Schleife

umwickelt auch geschenkt bekommen. Seit dem sitzt er täglich nach der Schule auf der Querstange seines selbst

errichteten Fußballtores und lässt die Paddelblätter in den links und rechts aufgebockten Schüsseln durch das

Wasser wirbeln. Für die Erlernung der Technik hat Heiner sich ausnahmsweise mal keine Belletristik ausgeborgt,

sondern auf eine Anleitung seines neuen Hobbys zurück gegriffen. Er ist überrascht, was man alles beachten muss,

wenn man das Drehen und Wenden der Blätter bis zur Spritzerlosigkeit perfektionieren möchte. Ganz abgesehen

davon, dass sein Trockentest nicht die natürlichen Bedingungen wiederspiegeln kann, wenn der linke und rechte

Arm sich an einen gleichmäßig starken Rhythmus gewöhnen müssen.

Heiners Mutter ist es tatsächlich gelungen, ihren Mann bei einer günstigen Gelegenheit mit dem Sommervorhaben

des Sohnes zu überrumpeln. Nichts war dazu geeigneter als das alljährliche Schützenfest, wo die hart arbeitende

Männerschaft des Dorfes mal richtig die Sau raus lassen kann. Da wird schon am Vorabend des Wettstreites

gezecht bis dem Gastwirt Angst und Bange wird, auch mit seinen Vorräten bis zum Ende des dreitägigen Gelages

durchzuhalten. Nur zu gut kam ihr zu pass, dass ihr Gerd zum drittenmal in Folge die Schützenkrone eroberte.

Diesen Siegeszustand und seine angeheiterte Verfassung ausnutzend, überzeugte sie ihn von dem, wovon sie

selbst begeistert war. Nur zu sehr gönnt sie dem Buben endlich mal raus zu kommen und über die dörfliche

Begrenztheit hinaus zu schauen. Was sie als Mädchen, welches einst in der Stadt erzogen wurde, bestens

nachempfinden kann.

Aus den Erzählungen der Großmutter kann sich Heiner bereits einiges über sein Reiseziel zusammen reimen

und in seiner bekannten Gründlichkeit beginnt er die Route fein säuberlich in einem A5 Heftchen zu skizzieren.

Beginnen möchte er die Tour am größten östlich gelegen Spirdingsee, um dann zu entscheiden entweder

nördlich zum Kröstensee mit den gepriesenen Orten Rotwalde und Lötzen überzusetzen oder gleich die Route

westlich mit seinem Endziel Elk am schönen Lycksee, sowie der Ort auch heute benannt wird, zu wählen.

In sein Büchlein nimmt er fünf verschiedenen Reisevarianten auf, die bei Weitem nicht die Möglichkeiten der

Seenplatte erschöpfen. Dabei führt er die Namensbezeichnung zweigleisig, um Großmutter beim

Wiederkommen, die Schilderungen zu erleichtern.

Gefesselt durch die Reisevorbereitungen und dem Frühjahr, welches seine Anfangseuphorie durchgehalten

hat, vergeht die Zeit bis zum Schulende für Heiner rasend schnell. Es ist ihm auch prächtig gelungen sein

Abschlusszeugnis zu seiner eigenen Freude und zum Stolz der restlichen Familie als einer der Besten zu

absolvieren. Nach Erledigung seines normalen Tagesablaufs, der Prüfungsvorbereitung, Paddeltechnik u.

Vieh füttern, widmet er sich der Geschichte der Masuren und erfährt, dass diese Bezeichnung noch gar nicht

so lange existiert. Die Ursprünge sind auf das sogenannte Altpreußen aus dem baltischen Sprachraum zurück

zu führen. Das Einzugsgebiet wurde im Wesentlichen durch die Stämme der Sudauen und Galinden beherrscht.

Damals glichen die Gebiete noch Urwäldern, bevor sie durch die Eroberungen der deutschen Ordensritter im

dreizehnten Jahrhundert nach und nach durch die nachwandernden Siedler urbar gemacht wurden. Erstaunt

entnimmt Heiner dem Geschichts-material, dass die Ureinwohner schon damals große Verehrer der Natur waren.

Für sie war es ein Frevel, wenn an den Ulmen, Eichen und Eschen die Baumrinde abgeschält wurde. Die Bäume

waren heilig und dienten als Schutz oder besonders attraktive Baumgruppen wurden als Versammlungsplätze

genutzt. Diese östlichen Urvölker waren bekannt durch ihre Gastfreundschaft, sowie eine tiefe Religiosität, der

sie in Form einer großen Freiheits- und Friedensliebe huldigten. Davon muss Einiges übrig geblieben sein denkt

Heiner, denn Groß-mutter hat sich nur schweren Herzens von ihren Nachbar, über die sie so manche Begebenheit

berichtet hat, getrennt. Er hofft, dass auch seine bevorstehenden Erlebnisse, diese Eindrücke wieder finden.

Endlich ist es soweit, sein Gepäck und das zusammengefaltete Kajak sind im Transportabteil verstaut, und er

klatscht sein Gesicht an das Abteilfenster, um die winkenden Eltern, gegen das einfallende Licht noch erkennen

zu können. Als der Zug zu rollen beginnt und er sich auf seinen Platz plumpsen lässt, weiß er nicht was

überwiegt, der Abschied oder die Spannung auf das Bevorstehende. Sie haben eine Verbindung herausgesucht,

die zwar etwas länger dauert und öfter an den Stationen hält, dafür braucht er aber bis zum Zielort Nikolaiken

nicht einmal umzusteigen. Die zirka fünf Stunden lange Fahrt führt Heiner eigentlich durch die bekannte Landschaft,

der weiten Felder und vereinzelten Ortschaften. Er verkürzt sich die Zeit damit, noch einmal seinen Rucksack durch

zu forsten, ob er nichts vergessen bzw. alles bedacht hat. Na ja denkt Heiner, was zu viel oder zu wenig ist, werde

ich bestimmt erst später merken. Ein älterer Herr mit dem typischen polnischen Schnauzer verwickelt ihn kurzzeitig

in eine Unterhaltung. Hoffentlich können dort auch andere so passabel meine Sprache verstehen und sprechen geht

es ihm durch den Kopf. Jedenfalls erhält er von dem Mann, dem er sein Reisevorhaben anvertraut, den Tipp, dass er

bei der Suche nach dem Nachtlager, am Rande sehr behutsam darauf achten soll, nicht in sumpfiges Gebiet zu

geraten.

Nur gut, dass Vater mir das kleine Rollengestell gebastelt hat, ist eben doch gut, wenn in der Scheune alles aufgehoben

wird, irgendwo schweißt es Vater schon wieder an oder zusammen, registriert der Urlauber zufrieden. So gelangt er

mit seinem hochgestapelten Gepäck bequem den Hinweisschildern folgend, die mit einem aufgekratzten Kahn markiert

sind, an eine Reihe von Bootstegen. Diese liegen am südlichen Zipfel des stiefelförmigen oder wie die Einheimischen

sagen, italienischen Seearms, bevor der Blick freigegeben wird auf den eigentlichen riesigen See. Ohne Hast, aber auch

ohne zu zögern, es ist bereits früher Nachmittag, beginnt er das Kajak, zu Hause wieder und wieder geprobt, auf zu

klappen, die Innenstege fest zu arretieren und das Gepäck in ausgewogener Balance zu verteilen. Ein schönes Gefühl

den letzten Handschlag vollbracht zu haben, sich im Boot nieder zu lassen und nach den ersten Schlägen zu spüren,

das bin nur ich, grenzenlos frei und unabhängig.

Wie zu Hause auf seinem Torkahn geübt, versucht er gleichmäßig, ohne die verlockende Ungestümtheit sich erst mal

auszupowern, auf die Seemitte zu zusteuernd und seine ruhige Bahn zu finden. Spielerisch bewegt er sich mal auf das

Ufer zu, um im nächsten Moment mit raschen Schlägen wieder in Seerichtung abzudrehen. Heiner achtet in dieser

Phase, in der er sich auf die technische Beherrschung der Fahrt konzentriert gar nicht darauf, dass die Dämmerung

einsetzt. Schließlich steuert er doch auf eine Uferböschung zu, zieht das Boot auf den mit Sand vermischten Waldboden

und merkt, dass seine Arme schwer und gefühllos geworden sind. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, hat er sich in

den Kapuzenschlafsack eingemummelt, hört die verschiedensten, unbekannten Tiergeräusche und schläft schnell und

tief mit den freudigen Gedanken an die kommenden Tage ein. Einen Wecker braucht er nicht, obwohl kein Anzeichen der

Zivilisation zu entdecken ist, scheinen die tierischen Waldbe-wohner einem gewohnten Rhythmus nach zu gehen und

haben zwitschernd und laut in den Blättern raschelnd kein Erbarmen mit dem strapazierten Paddelanfänger. Trotz der

Ermüdung ist Heiner sehr empfänglich für die ungewohnte morgendliche Begrüßung. Er bleibt noch eine Weile liegen,

gewöhnt die geöffneten Augen daran, das Licht durch den wackelnden Blätter-wald huschen zu sehen und das

instrumentenreiche Tierkonzert zu genießen. Nach seinem spartanischen Frühstück aus Vollkornbrot mit

Schokoladenaufstrich und einem Päckchen Vanillemilch bestehend, begibt er sich sofort wieder an die Paddel und

erlebt einen weiteren idyllischen Tag. An vielen Stellen erkennt er die Hinweise des Nationalparks und kann sich gut

vorstellen, wie diese erhalten Urwälder dem Schutz und der Nahrungssuche der alten germanischen Vorgänger gedient

haben. Auch heute ist seine zeitliche Orientierung wieder zur Nebensache verkommen, so muss er sich nicht wundern,

dass seine zu späte Quartier-suche keinen günstigen Uferflecken erspähen kann. Aber die überlieferten Götter Odin

und Wotan scheinen es gnädig mit dem sympathischen jungen Burschen zu meinen, denn so wage glaubt er in einiger

Entfernung einen Feuerschein ausmachen zu können. Ohne Bedenken nähert er sich, die Paddel kräftig vorwärts

treibend, der beleuchteten Uferstelle. Er hat sich nicht geirrt, ein kleines Lagerfeuer knistert dort und es hüpft kein

Rumpelstilzen herum, nur eine nicht erkennbare Person erhebt sich, als sie ihn bemerkt und mustert das anlegende

Kajak. Zu seiner Verwunderung spricht ihn eine helle, polnische Stimme an. Seine radebrechende deutsche

Erwiderung, nicht zu verstehen, wird mit einem Ah, ich spreche ein wenig Deutsch, quittiert. Hilfreich greifen zwei zarte,

schmale Hände zu und gemeinsam ziehen sie das Kajak neben das bereits fest Vertaute des Lagerfeuerbesitzers.

Hier im flackernden Feuerschein kann Heiner seine irrige Vermutung korrigieren, denn er ist auf eine weibliche

Reisende gestoßen. Inzwischen ist dies auch sehr ersichtlich geworden, da die Kapuze ihres Shirts beim

Bootherausziehen herunter gerutscht ist und ein braunes, lockiges Haar hervor quellen lassen. Mit einer

geschmeidigen Handbewegung fordert sie ihn auf Platz zu nehmen. Bereitwillig lässt er sich nieder und reibt sich die

frostig gewordenen Hände. Das Mädchen selbst zieht sich ihre Fäustlinge wieder über und spricht Heiner in seiner

Sprache an. Ja viele der Reisenden sind immer überrascht, wie kalt es unter den alten Bäumen trotz eines herrlichen

Sommertages am Abend werden kann. Sie ist bereits das dritte Jahr in den Masuren unterwegs, weil man ständig neue

Wege und Gebiete erkundschaften kann, ohne je das Gefühl zu haben mal am Ende anzukommen. Ob sie den keine

Furcht habe fragt Heiner. Nein, in den letzten zwei Jahren hat sie auch eine Freundin begleitet, die hat aber inzwischen

einen Motorradverrückten Freund, der kein Paddel anfassen würde. Aber warum er so allein reise, will Jelena, wie sie

sich ihm so gleich vorstellt, wissen. Na ja eigentlich ist dies meine erste richtige Fahrt und im Dorf zu Hause, ist es eben

nicht üblich und schon gar nicht während der Erntezeit, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mit zur Hand gehen

müssen.

Jelena setzt fort, sie komme aus Warschau und die Sehnsucht nach der unberührten Natur, der Stille und Ruhe triebe

sie hier her. Nach dieser Reise wird sie ein Studium in Deutschland im Fach Wirtschaftswissenschaften beginnen. Sie

möchte wissen, ob Heiner ihre zukünftige Universitätsstadt Freiburg kenne. Der unerfahrene junge Mann bedauert,

leider nicht, aber ein Bruder seiner Mutter, doziert in Heidelberg einer anderen bekannten Studentenstadt. In welchem

Fach weiß er selber nicht so genau. Für heute sei es aber doch schon spät geworden und einmütig beschließen sie, sich

zur Ruhe zu begeben. In ihren Schlafsäcken, jeder an der entgegengesetzten Stelle des nur noch Asche glühenden

Lagerfeuers, sind beide in kurzer Zeit eingeschlafen. So können die beiden jungen Leute auch nicht mehr miterleben,

wie der volle silberne Mond aufwacht. Nur die Eulen mit ihren auf und zu klappenden tiefliegenden Telleraugen sind die

einzigen Bewunderer des Mondschauspieles. Fast zu schade, dass die Silberflut ihre Faszination der fluoreszierenden

Beglitzerung des schlafenden Sees und der funkendelnden Blätterpracht nur für die wenigen geflügelten Zuschauer

inszeniert. Wie dahin gehaucht schwebt über dem, nur durch das noch schwach atmende Feuer getrennten Paar, ein

Silberkleid und die Vorahnung, welche Träume der Zufall hier noch gedenkt zaubern zu wollen.

Nichts ahnend, von der nächtlichen funkelnden Prophezeiungen, wachen die Unschuldigen nach einander auf. Zuerst

stülpt sich Jelena gelenkig wie eine Katze aus dem wattigen dunkelroten Schlafsack, wirft einen kurzen Blick zu Heiner

hinüber, von dem nicht einmal die Nase an dem frischen angebrochenen Tag heraus schnuppert. Jelena ist in ihrer

städtischen Familie schon gefürchtet für ihre Manie des zeitigen Aufstehens, egal ob es ein Wochenende oder eine

andere Gelegenheit gibt, mal nicht einem Weckergebimmel gehorchen zu müssen.

Entschlossen geht sie mit ihrem kleinen Kosmetikbeutelchen, in dem sie vorbereitet auf alle Einfachheiten der Reise,

die notwendigen Utensilien verstaut hat, in Richtung Uferkante. Dreht sich vorsichtig noch einmal um und sieht nach

wie vor das unbewegliche Bündel zusammen gerollt neben der erloschenen Asche, die nichts von den

verschwörerischen Geheimnissen der Nacht Preis geben will.

Mit ihrer katzenhaften Geschmeidigkeit befreit sich die junge Frau von ihren sportlichen, wärmenden Sachen und ist

bereit ihre Nacktheit in den morgendlichen See zu tauchen. Sie kennt dieses Wonnegefühl, wenn sie sich überwunden

hat und mit einem Ruck bis zu den Schultern im Wasser hockend, die prickelnde Frische aufsteigen spürt, dann ist sie

soweit für eine ausgedehnte Schwimmrunde. Über alles Mögliche fliegen ihr die Gedanken zu und kribbelnd denkt sie

daran, dass sie die Einzige ist, die über die Wasseroberfläche linsen kann.

Alle mit ihren schwingenden Flossen dahinziehenden Fische müssen unter ihr bleiben und ein unbekanntes Leben

führen. In dem Moment ist sie die Arielle, die beide Elemente beherrscht. Überquert sie eine besonders kühle Stelle,

überlegt sie für den kurzen Augenblick, wie lange muss ich diese Kneippkur durchhalten und wie tief mag es wohl an

diesem Punkt sein, groß genug um einem Nessi Platz zu bieten? Ihre Eltern fliegen zu gern nach Budapest, weil sie

dort bessere Einkaufmöglichkeiten wittern als in ihrer Hauptstadt und versäumen es jedes mal nicht, sich in den

Thermalbädern zu entspannen. Für Jelena sind diese Erinnerungen ein Graus. Nur daran zu denken, wenn die Haut

immer weicher wird und später zusammen schrumpelt, als läge man schon eine Weile unter der Erde. Wie liebt sie

dagegen diese Momente.

Das Plätschern, durch die zaghaften Fußbewegungen der kühnen jungen Frau verursacht, muss doch an die

verkrochenen Ohren Heiners gedrungen sein. Mit dem rechten Zeigefinger bohrt er in seine Schlafsackverstrickungen

ein winziges Löchlein und blinzelt unbemerkt direkt auf die ihm den Rücken zukehrende Jelena. Aller Schlafsand kann

den angenehmen Schock des jungen Mannes nicht verhindern. Bisher hat er mit seinen siebzehn Jahren noch keine

bedeutenden Mädchenerfahrungen gesammelt, dazu haben ihn seine intensiven Hobbys zu sehr in Beschlag genommen.

Das man aber so ein Traumbild nicht alle Tage heimlich belauschen kann, ist ihm sofort bewusst. Jelena zögert noch

ein wenig und vorerst schwappt die Wasserkante nur um ihre Kniekehlen. Heiner bietet sich ein Bild, als hätte Vermeer

zum Pinsel gegriffen und bei seiner Modelauswahl, die Schönste des Landes herausgefischt. Der junge Mann kann sich

gar nicht vorstellen, wie es sein würde diese glasfigurenartige Taille zu umfassen, ohne das sie splittern würde. Von der

Vollkommenheit des weiblichen Po’s bekommt er gleich zum Premiereanblick das Beste geboten, was die Wollust

vermag hoch kochen zu lassen. Aber der Siedepunkt ist noch nicht erreicht, als die Schöne ihre Arme federleicht in die

Höhe reckt und dabei das volle, seidenglänzende Haar nach oben steckt und eine Hals- und Schulterpartie dem

verborgenen Blick frei gibt, die man nur mit den weichesten Lippen umschmeicheln möchte. Mit einem entschlossenen

Satz der Vollkommenen sieht der Schauende das Traumbild entschwinden und es bleiben nur die sich immer weiter

ausdehnenden Kreise an der Wasseroberfläche. Die mutige Taucherin zieht mit kräftigen Arm- und Beinbewegungen so

lange, bis die entschwindende Kraft sie von allein an die Oberfläche zurück gibt.

Lange dehnt sie die Schwimmrunde aus und der arme zurückgebliebene als noch schlafengeltende Heiner weiß nicht,

wie er sich ohne Peinlichkeit aufkommen zu lassen, verhalten soll. Er beschließt noch vor Jelenas Rückkehr auf zu stehen

und einen kurzen Ausflug ins Waldesinnere vorzunehmen. Seine morgendliche Dusche fällt wesentlich geringer aus und

vollständig angezogen, schreitet er mit langem Schritt durch den pfadlosen Wald. Es ist wirklich schwierig die

Orientierung ohne Wege und markante Zeichen zu behalten. Überall begegnet er hoch aufragenden Bäumen, die nur in

der Krone ein üppiges Blattwerk aufweisen. Dafür kriechen über den gesamten Waldboden alle mögliche Farne mit

Beeren deren Namen er nicht einmal kennt. Diese Dichte noch nicht genug, gibt es unzählige Sträucher mit großen,

kleinen, gezackten, gerollten oder auch stacheligen Blättern durch die er nur mühsam vorwärts treten kann. Bei jedem

Tritt hat er das Gefühl, die Natur würde sich über den ungebetenen Eindringling empören und unter seinen Füssen gäbe

es leise Protestschreie der brechenden Äste und gedemütigten Blättchen. Mitten in diesem Zauberwald bleibt er vor

einem Gebilde abgestorbener Bäume, die sich wie ein konstruierter Holzkinderspielplatz in den Weg lümmeln, stehen.

Heiner hat nicht bemerkt, dass Jelena schneller aus dem See gekommen sein muss, als er vermutet hat. Sie hat den

verlassenen Schlafplatz registriert und die frische in den Wald hinein führende Spur.

Allein hat sie bisher ein weiteres Vordringen in den Urwald nicht gewagt. In diesem Fall lockt es sie aber die Spur des

jungen Deutschen aufzunehmen. Gerade als er vor dieser Baumkollision verharrt, stößt sie zu ihm. Etwas scheu murmelt

jeder in seiner Landessprache den Morgengruß und die bizarre, tote Baumgruppierung ist ein guter Grund wieder in die

gegenseitige Unbefangenheit zu verfallen. Jelena ruft als erste, komm folge mir und balanciert die krummen Äste der

Hexenbäume entlang. Lachend versucht jeder von beiden zu beweisen, schneller und geschickter auf die Baumgabeln

klettern zu können. Pustend gönnen sie sich eine Pause. Auf einem der knorrigen Äste sitzend tauschen sie Fragen über

ihr Alter, die Schule, die Hobbys und die Geschwister aus. Auf dem Rückweg zu den Kajaks, die Äste beiseite schiebend,

fragt Jelena unvermittelt und ungezwungen, ob Heiner nicht Lust hätte die Tour mit ihr zusammen fortzusetzen.

Schließlich sei ihr Endziel auch Lyck oder wie er es nennt Elk. Nicht einen Moment hat er eine solche Möglichkeit in

Betracht gezogen. Die Aussicht auf eine Fortsetzung der Unterhaltungen mit Jelena durchströmt ihn mit einem

unbestimmten, angenehmen Gefühl. Auch seine heimatlichen Voraussetzungen, mal ganz allein die Welt erkunden

zu wollen, sind spurlos wie eine Nebensächlichkeit verschwunden.

Bevor sie ihre Bündel packen, frühstücken sie gemeinsam und beobachten neugierig, was der andere so zu sich

nimmt. Jelena greift immer wieder in eine Dose, aus der sie vergnüglich kleine faltige, dunkelbraune bis gelbe

Klümpchen in ihren Mund steckt. Sie bemerkt natürlich seine skeptische Mine und wirft ihm forsch ein Exemplar

herüber. Es mundet ihm recht gut scheint sein breiter werdendes Lächeln auszudrücken. Jelena macht kein

Geheimnis darum, es sind einfach getrocknete Pflaumen eingelegt nach einem alten Familienrezept, erklärt sie

dem Probierenden. Sie sind gut für die Verdauung, die schlanke Linie und sehr Durst löschend, setzt sie ihre

Aufklärung fort. Von Heiners Schokoaufstrich will sie sich nicht verführen lassen, denn wenn sie an ihre kräftige

Mutter denkt, möchte sie lieber rechtzeitig vorbeugen.

Jeder auf seine Weise gestärkt, paddeln sie mal hintereinander aber meistens parallel neben- einander, mit dem

unbewussten, unerkannten Gefühl der aufkeimenden Zuneigung, den nächsten Zielen entgegen.

In dieser Landschaft wird der Tourist unschlüssig, welche Richtung er bevorzugen soll. Überall sind die größeren

und kleineren Seen durch Flüsse und Kanäle verbunden und ermöglichen das wechselseitige Naturschauspiel der

sumpfigen Moorgegend genauso aus dem Boot zu verfolgen, wie den Anblick auf die sanften Hügel mit den

spielerischen weiß gescheuerten Birkenwäldchen. Ein Vogelkundler würde diesen perfekten Ort zur Brut und

Aufzucht auch nur noch ganz seltener Arten wohl niemals mehr verlassen wollen.

Die tourerfahrene Jelena übernimmt die Führung, macht den jungen Begleiter, der immer häufiger nur zu ihr rüber

schielt, auf die Holzhäuser in altmasurischer Bauweise aufmerksam und konzentriert seinen Blick ebenso auf die

typischen Gutshäuser aus den ehemaligen ostpreussischen Zeiten, die aber vielfach ihren Glanz eingebüßt haben.

Sie streifen Baittenburg und bewundern die malerisch auf einem Hügel eingebettete Kirche mit der stolzen

Turmspitze und einem ehrfurchtsvollen Glockenschlag, bei dem sich so gar die Paddel ausruhen dürfen. Vollendet

wird diese entrückte Schönheit durch eine gut erhaltene Wallanlage, die sich an den Hügel anschmiegt und die Kirche

zu umfließen scheint. Ganz unbeeindruckt von dem kompletten Ensemble drücken sich wollig aufgeplusterte Schafe

eng an die Feldsteinmauern und zupfen das saftigste Gras, welches im Schutze der Mauer am besten sprießt.

Jelena spornt Heiner tüchtig an, denn sie möchte ihn dazu motivieren, heute noch bis Lötzen durch zu paddeln.

Natürlich kann seine erwachte Männlichkeit, als er sich den harten Kanten auf einer Karte erklären lässt, dazu noch

ganz dicht am frisch riechenden Haar der bewunderten, schönen Begleiterin schnuppernd, nicht zu geben, dass er

die Eingewöhnungsphase noch nicht erreicht hat. Seine Arme und Schultern sind verspannt und er versucht

unauffällig die Technik von Jelena abzukupfern, um seine Ermüdung nicht länger überspielen zu müssen. Aber die

Gegend bietet weiterhin so viel Abwechslung und die nicht aussetzende Unterhaltung zwischen den beiden, lässt sie

das Ziel schneller erreichen, als die Voreinschätzung veranschlagt hat. Hier steigen sie seit langem auch wieder mal an

Land und müssen beide unwillkürlich und zeitgleich in lockernde Kniebeugen verfallen. Lachend über ihre gleichzeitige

Intuition begeben sie sich in die alte, schon Anfang des vierzehnten Jahrhunderts urkundlich erwähnte Stadt. Den

Schautafeln im Ortszentrum entnehmen sie, dass es hier bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts eine blühende,

wohlhabende Stadt gegeben haben muss, bevor sie fast vollständig von den Tartaren zerstört wurde. Einige sehr

sorgfältig rekonstruierte Gebäude lassen diese historische Betrachtung erahnen, die weitere Schmerzen während des

ersten und zweiten Weltkrieges erdulden musste. Zum Ausklang ihrer Stippvisite schlendern sie an der kilometerlangen

Mauer entlang, die die riesige Festung Boyen, erst später im neunzehnten Jahrhundert erbaut, umschließt. Sie klettern

auf die meterdicken Festungsmauern und können so den Blick auf die direkt an das Burgenareal angrenzenden

Löwentin- und Mauersee richten.

Winzig klein erscheinen ihnen von hier oben ihre aneinander kuschelnden Kajaks. Komm wir wollen sie nicht allein

lassen ruft Jelena und hüpft schon die ausgetreten und verwaschenen Stufen hinunter, bei denen man Acht geben

muss, weil ihre verwitterte Unförmigkeit einen ständigen Wechsel der Schrittlänge provoziert. Kein bisschen ausruhen

denkt Heiner und spurtet dem entfliehenden Wildfang mit staksigen Sprüngen hinterher.

Sie erreichen die Ebene gerade noch rechtzeitig, um sich der Gebietsführung anzuschließen. Ein älterer, drahtiger Herr

führt die kleine Gruppe, der sich auch Jelena und Heiner zu gesellt haben, durch die einmalig, erhalten gebliebene

Flachmoorlandschaft mit den typischen Tieflandflüssen und ihren zahlreichen Altwassern, Flussarmen, Buchten und

kleinen Abdämmungsseen. Der Fluss ist an dieser Stelle recht tief und in dem breiten Flussbett werden sie zügig durch

den schnellen, aber nicht reißenden Stromlauf mehrere Holzbrücken unterfahrend mitten in die sumpfigen Weiden der

mäanderreichen Tiefflusslandschaft fort getragen., ohne übermäßig die Paddel einsetzen zu müssen. Sie benutzen sie

nur zum Ausgleichen und versuchen dem Führer folgend, seine Fahrrinne anzusteuern. Jelena muss sich ganz schön

konzentrieren und beeilen, um Heiner die interessanten Erläuterungen zu übersetzen. Pjotr, der Landschaftsführer,

beschreibt den Naturfreunden, welche idealen Vorraussetzungen diese natürlichen Lebensräume vielen seltenen Tier-

und Pflanzenarten bietet. So zeigt er ihnen, vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten wie die Kleinbirke, Lappländische

Weide, Steinbrech oder auch am Königsfarn bleiben ihre bewundernden Blicke hängen. Erstaunt vernehmen sie, dass

der Elch sich unter diesen Bedingungen wieder ausbreiten konnte und auch Biber, Fischotter, Dachse, Wölfe, Wiesel,

Hermeline, Baummarder und andere seltene Säugetiere hier ein glückliches Leben führen. Pjotr schaut in die Luft und

setzt seine Begleiter darüber in Kenntnis, dass fast dreihundert Vogelarten in diesem Gebiet beheimatet sind. Hier brüten

Steinadler, Seeadler, Sumpfeule, Uhu, Schwarzstorch, Haubentaucher und der putzige Wachtelkönig. Auf einer Fläche

von einem Quadratkilometer bauen die genannten Vögel und ihre Artgenossen zirka sechshundert Nester. Die Eindrücke

und die Flut der Wissensvermittlung lenken die beiden jungen Leute nicht davon ab, ihre Blicke auszutauschen, als wären

sie schon ewig vertraut miteinander. Heiner empfindet eine schaurige Welle der Wärme, wenn Jelenas geschlossener

Mund sich zu einem süßen, anziehenden Lächeln formt, als wolle sie ihm sagen, siehst du, habe ich dir zu viel

versprochen. Sie kommen gar nicht dazu diese Phasen auszudehnen, denn gerade in einem Altwasser angekommen,

zeigt ihnen Pjotr, warum die rund vierzig hier lebenden verschieden Fischarten beste natürliche Lebensbedingungen

vorfinden. An dieser Stelle der stoischen Ruhe verweilt die Gruppe länger und sie können den Vorbeizug oder das

plötzliche Auftauchen von Hechten, Plötzen, Bachforellen und Kaulköpfen mit erleben.

Auf der Rückfahrt aus der sonderbaren, wilden Landschaft, deren Moorflächen jetzt im Sommer mit den weißen,

flaumigen Fruchtständen der Wollgräser bewachsen sind, lauschen sie Pjotrs Schilderungen, wie sich die Natur in den

anderen Jahreszeiten ändert. Es ist ein vielseitiges Kolorit, was der Jahreszeitenwechsel der Landschaft zu bieten hat.

Im Frühling reichen die großflächigen Schwemmgebiete bis in das Tal hinein. Über der ausgebreiteten Wasserfläche

ertönt dann das hektische Stimmengewirr der Wasservögel. Zum Ende des Frühjahrs noch rechtzeitig vor dem

Sommerbeginn hat sich die Fläche mit einem satten Grün selbst verzaubert. Der Herbst überzieht die Landschaft mit

seiner milden, beruhigenden Braunfärbung durch die an viele Stellen das Gold der vereinzelten Birkenschonungen

hindurch schimmert.

Am Abend des erlebnisreichen Tages, an dem sie nicht nur ihre Neugier an der Kultur und Landschaft gestillt haben,

sondern auch unbemerkt ihre Herzen einander zu fliegen, müssen sie sich beeilen noch ein Plätzchen zu finden. Ganz

unabgesprochen streben sie danach einen einsamen Flecken zu finden, um ihre Ungestörtheit vom gestrigen Abend

wieder aufnehmen zu können. Fast glauben sie schon ein Idyll erobert zu haben, als hinter den Bäumen die Gesichter

zweier kleinen Kinder, ein Junge mit Segelohren und wahrscheinlich seine kleinere Schwester mit süßen

Sommersprossen auftauchen. Die bisher noch unentdeckten Eltern laden sie ein, doch an ihrem Lagerfeuer, welches sie

gerade aufschichten, teilzunehmen. Jelena antwortet in ihrer Sprache lächelnd etwas, was Heiner nicht verstehen, eher

deuten kann, als wir müssen noch weiter und schon stößt sich Jelena auch schon rückwärtsdrehend vom Ufer ab.

Schweigend halten sie, gehandicapt durch einen sich rasch verdunkelnden Himmel, Ausschau. Wieder sind die

himmlischen Mächte mit ihnen und der Zufall spendet ihnen eine Seitenarm, wie die Einfahrt zu einer Piratenbucht, den

sie sich gleich zu eigen machen. Schnell springen sie hoch erfreut über die romantische Wassernische ans Ufer. Jelena

gibt so gleich die Organisation vor, d.h. wenn Heiner einverstanden ist, solle er das Holz für das Lagerfeuer sammeln, in

der Zwischenzeit würde sie versuchen etwas Schmackhaftes von den auf dem Bauernmarkt erstanden regionalen

Spezialitäten zu zubereiten. Hier geschützt unter dem dichten Blätterdach bemerken beide nicht die bedrohliche

Verdunkelung des Himmels. Heiner ist schon mitten im Wald und Jelena spürt als erste, dass sich zu der frühzeitigen

Finsternis ein heftiger Wind gesellt. Eilig läuft sie zu den Booten, um die Vorräte zu holen. Mit Schrecken sieht sie gerade

noch, wie ihr Kajak sich los reißt und anfängt davon zu treiben. Sie springt hinterher und während sie sich in das Boot

zieht, ist es bereits aus dem Seitenarm in den See geweht worden. Das Paddel liegt schicksalsschwer bei den anderen

Sachen am Flussufer. Verzweifelt versucht sie mit den Händen zu rudern, aber gegen diesen heftigen Wind und den

aufkommenden Regen, bei dem sie nichts mehr erkennen kann, verlassen sie bald die Kräfte und völlig erschöpft treibt

sie willenlos als Spielball der Naturgewalt auf dem vorhin noch so idyllischen, harmlosen See.

Heiner hat die aufgezogene Unruhe inzwischen auch gespürt. Er nimmt das was er bisher zusammen getragen hat und

eilt an den Rastplatz zurück. Als er eintrifft, ist seine Gefährtin bereits machtlos dem Unwetter ergeben. Laut rufend, die

Hände ängstlich zu einem Trichter gepresst, läuft er das Ufer ziellos ab und weiß nicht, wie nun weiter.

Als es hell wird, kann er sich nicht erklären, wie er eingeschlafen ist. Völlig durchweicht liegt er nah bei seinem Kajak

und begreift ungläubig, dass Ihres entschwunden ist. Fort, weg wie eine Seifenblase, denkt er verzweifelt. Trotz oder

gerade wegen dieses unglaublichen Geschehens will er die Reise fortsetzen und in allen Orten nach Jelena fragen.

Aber egal ob in Johannisburg, Stradaunen, Ebenfelde oder Elk überall kein Lebenszeichen von ihr. Nichts nimmt er

mehr von der Natur wahr, nur völlig perplex paddelt er vor sich hin, einzig an den Orten orientierend. Nun kann er der

Großmutter auch nicht schildern, wie er auf jede Gasse und Kirche ihres so geliebten Elks geachtet hat. An diesem Ort

fünfhundertfünfzig Luftkilometer entfernt von Berlin, gibt sich Heiner geschlagen und kapituliert davor, weitere

Suchaktionen zu starten.

Ohne Hoffnung tritt er die Heimreise an und ist ein Bild des Schreckens für seine Eltern. Zwar ist er sonnengebräunt und

kräftig in den Schulter durch die vielen Paddelkilometer, aber sein Gesicht drückt das Leiden eines hoffnungslosen,

unglücklichen Verliebten aus. Mutter versucht ihn zwar gelegentlich zum Reden zu bewegen, weil sie weiß, Kummer

muss raus, aber die verdammten Männer können so sture Insichhineinfresser sein.

Wüsste Heiner, was heute an seinem letzten Ferientag vor dem Beginn der Ausbildung auf ihn zukommt, würde er nicht

so lotterig mit seinen Viehsachen im Heu liegen bleiben und nach den fetten Fliegen schnipsen.

Mäßig erfreut hört er die Mutter rufen, Besuch für dich Junge. Lustlos erhebt er sich mit Heuresten im Haar und auf dem

Baumwollhemd und kann nicht erkennen, wer da im Schatten des halbgeöffneten Scheunentors steht. Mit der Handfläche

über den erstaunten Augen erblickt Heiner ein Kleid und ihre Lockenmähne, die verführerisch vom Windzug umspielt

wird. Das kann nicht sein flüstert er halblaut, zu sehr hat er in seiner verzweifelten Traumwelt um diesen fernen,

unerreichbaren und verlorengeglaubten Stern getrauert.

Wie hast du mich gefunden, was ist mit dir passiert, platzt es haltlos aus ihm heraus.

Entgegen seiner unvorbereiteten Reaktion kann Jelena eine Ruhe ausstrahlen, die sie schon so lange in sich trägt, wie ihr

Entschluss feststeht, vor der Fahrt nach Freiburg den Umweg zu Heiner zu wagen. Nachdem Fischer sie ans Ufer

gezogen hatten und sie ohne Umschweife in ihre Heimatstadt weiter überführt wurde, hatten sie Zweifel befallen, wieso

Heiner sich nicht bei ihr meldete. Aber sie wusste natürlich nicht, dass er noch zwei Wochen die ganze Umgebung

abklapperte und der kleine Zettel mit ihrer Anschrift von dem Katastrophenregen bis zur Unlesbarkeit aufgeweicht

wurde.

Sehr rasch haben sich die beiden dies, während sie aus dem Schatten des Tores in die Sonne treten, ausgetauscht.

Beglückt sehen sie sich in die Augen und Jelena fährt fort, dass sie sich den Dorfnamen gemerkt hat und es hier nicht

schwer war nach einem hübschen Burschen mit einem Kajak zu fragen. Danke für das Kompliment entgegnet der nun

wieder gefasste ehemalige Todunglückliche und setzt hinzu, wie toll sie in dem Sommerkleid aussehe und dass er ihr

gern einen Feldblumenstrauß ins Haar flechten würde.

Die Mutter schaut aus dem Küchenfenster im Hinterhof und ruft die beiden zum Mittag. Du hast doch bestimmt keinen

Hunger, du schlankes Mädchen bittet Heiner. Ich würde dich lieber auf meinen Weiher entführen, von dem ich dir

vorgeschwärmt habe. Jelena möchte der Mutter gegenüber nicht unhöflich sein, kann aber seinem Elan nicht

widerstehen. Völlig entfesselt, von ihren unterschiedlichen Zweifeln bzw. Verzweiflungen befreit, laufen sie durch das

blühende Mohnfeld zu seinem Lieblingsfleck. Angekommen zeigt er ihr jeden Winkel, nennt die Vögel teilweise mit

Namen und gemeinsam machen sie sich über die eitlen Störche lustig. Wie benommen sind die beiden Glücklichen,

lassen sich in das weiche Moos fallen und starren zum Himmel ohne dass einer ein Wort sprechen würde. Sie können

beobachten, wie ein gerade majestätisch aufsteigendes Kranichpaar, an Höhe gewinnt und ganz oben mit den weit

ausgebreiteten Schwingen schwerelos dahin gleitet. Wie selbstverständlich nähern sich auch ihre ausgebreitet Armen

bis sich ihre Fingerkuppen berühren und  zärtlich streicheln, um letztendlich beider Hände fest ineinander zu

verschmelzen.

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