Der letzte Brief

Ein Ameisenhaufen verdunkelt den Treppenabsatz.
Quirlig bedeckt das kleine Heer Risse und Fugen.
Es braucht Zeit, um ihr System zu verstehen.

Den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, liegt sie davor.
Entspannt schaut sie auf die fleißigen Insekten.
Begreift sehr schnell ihre rasche Vergänglichkeit.

Der winzige Staat wohl geordnet mit eigener Hierarchie.
Sie kann gar nicht ablassen, die klar gegliederten Körper zu bestaunen.
Jetzt nimmt sie den Brief in die Hand.

Sie mag die von der Feder aufgetragene Schrift.
Für dich, die liebgewordene Anrede.
Von weit her die mit Tinte gebannten Gedanken.

Wie sehr hat sie den Brief ersehnt.
Hat die Worte geträumt, bevor sie entstanden.
Oh weh, es ist nur ein Blatt beschrieben.

Voll ängstlicher Ahnung knittern die Finger das Blatt.
Was heißt hier: Erklärung, Auseinanderleben, Abschied?
Eben noch das glückliche Gesicht, auf einen Schlag einsam, still, betroffen.

Die Nacht senkt sich langsam herab.
Alle Ameisen längst geheimnisvoll verschwunden.
Der Wind bläst das zerrissene Papier weit fort.

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