Das Telefonat

Sie nimmt das Handy aus der Ladeschale und hört die Stimme ihrer besten Freundin Daggi. Na endlich Emilia mal nicht

dein Anrufbeantworter schreit Daggi durch den Hörer. Du bist ja wie einer meiner Käfer, der sich unter den

Palmenwedeln verkriecht.

Am Telefon überdreht Daggi jedes mal ihre Stimme und passt die Lautstärke an, als stünde sie in einer lärmenden

Bahnhofsvorhalle. Ihr Temperament steigert sich noch, wenn sie wie in diesem Fall zig vergebliche Anläufe verdauen

musste. Daggi weiß, dass Emilia in einer Krise steckt. Auch Emilia weiß dass sie dies bemerkt hat, kann aber im

Moment die poltrige Gluckenhaftigkeit der Freundin nicht ertragen. Sie erwidert die Begrüßung mit einem leisen Hallo

und entschuldigt ihr Stillhalten mit Unwohlsein. Nein meine liebe Emilia, dass lasse ich nicht gelten, denn nicht dein

Körper ist das Problem, sondern dein süßes Lockenköpfchen.

Emilia ist jetzt neunundzwanzig, alleinstehend ohne je eine ernsthafte Verbindung einge-gangen zu sein. Ihre ganze

Zeit, d.h. sowohl der Tages als auch Nachtablauf ist ihrem Beruf untergeordnet. Als Tänzerin ist sie selbst weit über die

Disziplin hinausgegangen, die der harte Beruf ohne hin schon fordert. Nach den ersten schweren Jahren, die den

Rausch der Kindheitsträume dämmten, hat sie es zu einer glänzenden Karriere gebracht mit vielen gefeierten

Solopartien. Ihre Vorliebe galt immer dem klassischen Tanz. Sie mag es nicht, wenn Tschaikowsky zu einem modernen

verworrenen Stück vergewaltigt wird und die Choreographie ihr disharmonische Bewegungen aufzwingt.

Daggi am Telefon beschwert sich weiter, dass sie es ihrer Freundin verübelt, neuerdings alle gesellschaftlichen

Highlights allein bestreiten zu müssen. Meine Liebe gestern hatte ich überhaupt keine Lust der Einladung zum Presseball

zu folgen, aber du kennst das ja, man muss gesehen werden, sonst bist du plötzlich schnell weg vom Fenster. Daggi ist

Redakteurin einer beliebten Kindersendung und wer sie kennt, die kinderlose etwas plapprige Frau, würde ihr nie das

Einfühlungsvermögen zu trauen, mit dem sie der Sendung ihren Stempel aufdrückt. Emilia ist eine der wenigen, die hinter

diese Fassade schauen kann und als einzige den Grund dieser ungewöhnlichen Mischung kennt.

Lange bevor Daggi ihr zweites Standbein beim Fernsehen mit Beharrlichkeit aufbaute, hatte sie gleich nach dem Abitur

ein Studium der orientalischen Geschichte aufgenommen. Sie hatte ihr Hobby, begründet aus den intensiven

gemeinsamen Urlaubsreisen mit ihrem Vater, zum Beruf werden lassen. Während des Studiums lernte sie Bastürck

kennen.  Aus der anfänglichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit wurde eine Entdeckungsreise der Herzen. Es war ein

nahtloser Übergang von der Sympathie in die vernunftbegründete Verschmelzung gemeinschaftlicher Anschauungen

und Gewohnheiten. Dem folgte keine Zeit der stürmischen Leidenschaft, kein Ausbrechen aus dem trockenen

Wissenschaftlermilieau. Sie lebten weiter mit ihrer Berufung zur Entdeckung längst vergangener Geschehnisse und

tauchten am liebsten darin ein, die bestehenden Deutungen und Interpre-tationen zu verfeinern. So war es für sie auch

ein ganz normaler Akt, als Daggi schwanger wurde, dies auf Bastürcks Bitte zu legalisieren. Kurz vor dem

Studiumsabschluss fuhren sie in seine Heimat den nördlichen Teil der Türkei. Sie hatte bis dahin noch nicht viel von den

kurdischen Traditionen erfahren und auf der langen Reise bereitete er sie behutsam auf das Kommende vor. Ein alter

Bahnhof mit Unkraut überwucherten Steinplatten und einem Bahnwärterhäuschen, an dem der Putz herab fiel, als hätte

gerade ein Erdbeben stattgefunden, begrüßte die beiden Mitteleuropäer. Es holte sie auch niemand ab und sie gingen

den kurzen Weg, einem Gemisch aus schwarzen Kiesstückchen und grauem Aschestaub, bis zum Dorf zu Fuß.

Entweder hatte die Familie seinen Brief nicht erhalten oder etwas anderes Unerklärliches hatte die freudige Begrüßung

erstickt. Angekommen an seiner heimatlichen Lehmhütte, in der er, ein außergewöhnlicher Junge schon damals,

unverstandene Bücher verschlang, trat ihnen eine mit einem schwarzen Kopftuch fast völlig umhüllte Frau entgegen.

Bastürck bemerkte an den freien Kopfstellen, dass nur ergrautes Haar sich unter dem Tuch verstecken wollte.

Er schloss seine Mutter in die Arme und konnte in der halbdunklen Behausung keine weitere Person erkennen. Wo ist

Vater und meine Brüder? Erst später bei einer Schale Tee schlurfend, erzählte die auf dem Boden kauernde alte Frau

vom Unglück, welches über sie herein ge-brochen ist. In einer schrecklichen Nacht wurde das Dorf von laut aufheulenden

Motorengeräuschen aufgeschreckt. Bevor überhaupt jemand zur Besinnung kommen konnte, hatten die von den LKWs

abgesprungenen Soldaten bereits die Türen eingeschlagen und den größten Teil der Männer auf die Pritschen der

wartenden Wagen gezerrt. Dieser ungerechten Aktion war ein Kurdischer Terroranschlag vorausgegangen, der in einem

überfüllten Kaufhaus dreiundzwanzig unschuldigen Türken das Leben kostete. In der Kürze hatte Bastürck Mühe Daggi

über die wesentlichen Einzelheiten und Hintergründe, die es so schwer machen sein Volk nach Verbrechern und dem

überwiegend anständigen Teil zu unterscheiden, auf zu klären. Im Dorf hatte sich eine friedliche Front organisiert, die auf

das Unrecht aufmerksam machen wollte. Für Bastürck war es eine Selbstverständlichkeit an diesem friedlichen

Aufmarsch vor dem türkischen Gebietsverwaltungsgebäude teilzunehmen. Sehr groß war seine Freude, als auch seine

unbeteiligte zukünftige Braut entschlossen ihre Teilnahme erbat. Frauen, Kinder und die übriggebliebenen Männer des

Dorfes zogen so, ein Bild des Mutes und des Willens die Gerechtigkeit einzufordern, auf den größten Platz der Stadt.

Berittene Polizei empfing die willensstarke Menschenmenge, die auf selbst bemalten Transparenten daraufhinwiesen, wir

sind keine Terroristen und Mörder. Alles sah von beiden Seiten recht friedvoll aus, als ein jugendlicher Bursche

unbedacht einen Stein auf die Gesetzeshüter schleuderte. Kurz darauf eskaladierte die Situation. Der befehlshabende

Leutnant gab das Zeichen den Menschenauflauf aufzulösen. Die Berittenen drängten mit gezogenen Säbeln die

flüchtenden Dorfbewohner auseinander. Daggi kam ins Straucheln und der Huf eines vorbei stürmenden Pferdes traf sie

am Bauch. Als Bastürck sich umdrehte und zu ihr eilen wollte, muss ein Gendarm dies als Angriff aufgefasst haben und

versetzte ihm mit dem Säbel einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Daggi wachte erst wieder im städtischen Krankenhaus

auf. Hilflos, aber ohne Tränen, nahm sie die Nachricht entgegen, dass Bastürck den Schlag nicht überlebt hat und auch

ihr gemeinsames Kind an diesem Schreckenstag, die Hoffnung das Licht der Welt erblicken zu können, eingebüßt hat.

In Sekundenschnelle sind diese Bilder bei Emilia vorbei gezogen, sie lauscht brav den Auswertungen Daggis vom

Vorabend und erfährt über Personen, die sie kennt oder auch nicht, den neuesten Klatsch und Tratsch.

Geistesabwesend versucht sie Daggis Schwung durch Zwischenfragen aufrecht zu erhalten, denn sie mag dieses

Geschöpf, welches auch immer mal wieder in ein Tief fällt, sehr und möchte sie nicht mit ihrem eigenen Kummer

belasten.

Was ist denn eigentlich ihr Problem. Nur weil sie es nicht gewohnt ist nicht die erste Geige zu spielen, bekommt sie

gleich eine Alterskrise. Es hat und tut ihr noch so weh nicht die Rolle der Carmen bekommen zu haben, dass sie selbst

nicht weiß, wie damit umgehen.

Weniger quält sie falscher Ehrgeiz, dass andere diese Wunschrolle nicht ebenso ausdrücken könnten wie sie, eher ist

es das nichtgreifbare Bauchgefühl, ob es nun mit ihr bergab geht und sie sich zum alten Eisen gesellen kann.

Daggi reißt sie aus den nicht enden wollenden, ziellosen Gedanken und sagt, weißt du wen ich noch getroffen habe,

deine alte Denderowa. Für ihr Alter sah sie umwerfend aus und von Hinten noch dazu mit dem grazilen, federnden

Schritt hätte man sie für ein junges Ding halten können. Ihre gute, gestrenge Tanzlehrerin, was für ein warmes

Erinnerungsgefühl es in Emilia hervorruft. Schon zu lange hat sie den Kontaktversuch, immer wieder Termine

vorschiebend, hinaus gezögert. Du sollst sie unbedingt besuchen, fährt Daggi fort. Sie erteilt immer noch Unterricht in

dem Spiegelsaal über dem Restaurant Zum Roten Ross. Schließlich verabschieden sich die beiden Telefonierenden,

nicht ohne die gutherzige Drohung von Daggi, dass sie sich nicht unterstehen soll, noch einmal so lange zu schweigen

und verschweigen solle sie ihr auch nichts. Wozu ist sie den stellvertretend die Beichtmutter für ihre liebste, heidnische

Freundin.

Diesmal schiebt sie ihr Vorhaben nicht auf die lange Bank. Zieht sich wie immer leger einen langen Strickpullover über

die Jeans, schlüpft in die flachen blauen Sabots und begibt sich gut gelaunt zum Roten Ross. Es ist noch die selbe

knarrende, schmale Treppe, die zum Tanzsaal hinauf führt. Wie damals gleiten ihre Finger bei jedem Treppenabsatz über

die runden, abgeschabten Geländerknaufe, um sofort weiter die Stufen hoch zu hüpfen. Sie hört schon das exakte, wohl

modulierte Und Eins Und Zwei der guten Denderowa. Leise die Tür öffnend, um nicht durch ein Quietschen die

strebsamen Eleven zu unterbrechen, zwängt sich Emilia in den Saal und hockt sich gleich am Eingang nieder. Die

Denderowa hat sie doch so gleich entdeckt und entgegen ihrer gewohnten Disziplin dürfen die kleinen Primaballerinen

die Hände von den Stangen lösen und sich lockern. Sie breitet herzlich die Hände aus und formvollendet, wie es die

flügelgleichen Armbewegungen einer Tänzerin wohl nicht anders ermöglichen, zieht sie ihren ehemaligen Schützling

auf beide Wangen küssend an sich. Warte bitte noch ein Weilchen, die Stunde ist gleich vorüber und dann haben wir,

du hast doch hoffentlich, Zeit für uns. Vergnügt aber auch überrascht, sie hat ganz vergessen wie mühseligen es mal

begonnen hat, beobachtet Emilia die kindhaften Versuche schon wie die Erwachsenen wirken zu wollen.

Das Folgende zwischen den beiden ist eher ein Monolog. Ihre Lehrerin zeigt sich unverändert lebhaft und energisch. Sie

überschüttet Emilia mit Fragen, teilt ihr aber sogleich ihre Auf-fassung über die erlebten Choreographien mit. Die ganze

Zeit hat sie ihren herausragenden Schützling nicht aus den Augen verloren und auch mit dem Stolz kokettiert, nicht

unbeteiligt an dem erreichten Spitzenniveau zu sein. Vorsichtig kommt Emilia dazu anzudeuten, dass ihr Zenit wohl

schon überschritten sei. Unsinn mein Kind, dein Körper kann noch alles leisten, wozu hast du dir ansonsten mit dem

Schweiß deine Fußzehen und Hacken wund und blutig gerieben, wenn es nur für ein paar Jahre reichen soll die

Zuschauer zu beglücken. Im Gegenteil wächst deine Ausdruckskraft, durch die menschliche Erfahrung, die dir kein

Training vermitteln kann. Technische Beherrschung ist das Eine, aber um ganz groß zu sein, musst du dich selbst

aufgeben können und das kannst du nur, wenn dein Herz kein Stein ist und dein Verstand mit offenen Türen gesegnet

ist.

So ging der Disput, in dem sie alles Versäumte aufholten, noch lange fort. Die Kerzen waren schon fast

heruntergebrannt, da offerierte die erfahrene Lehrerin ihr ein Angebot bzw. eine Bitte. Sie könnte ihr helfen und sich

auch, denn sie brauche jetzt die Möglichkeit mal vom Theatergeschehen abzuschalten, wenn sie in ihrer Abwesenheit

den Tanzunterricht fortsetzen würde. Sie denke dabei auch an ihre jungen Schülerinnen, die sehr traurig wären, wenn

sie fünf Wochen aussetzen müssten. Emilia müsse doch wissen, dass Tanzen nicht wie andere Hobbys ist. Hier steckt

Leidenschaft dahinter, Träume etwas Großes zu werden und immer ein zarter, verletzbarer Charakter, der eisern daran

festhält. Es hätte nicht dieser eindring-lichen Überzeugung bedurft, um Emilias Ja zu erhalten. Sie möchte es schon

deshalb nicht ab-schlagen, weil sie weiß, was der Denderowa die Heimreise in die rumänischen Karpaten bedeutet. Auf

ihrem Dielenschränkchen liegt noch der blau rot gestickte Läufer, den sie als Abschiedsgeschenk bevor sie an das

Landestheater wechselte, von der selten gerührten Meisterin bekommen hatte. Ab und an hatte die Lehrerin von ihrer

Heimat erzählt. Sie schilderte eindrucksvoll die idyllischen Bergdörfer mit den alten Mütterchen auf windschiefen Bänken

vor den Katen sitzend, an denen der Zahn der Zeit schon genagt hat. Aber auch neue phantasievoll gedrechselte Bänke

mit frisch bemalten Blumenornamenten zeugen von der Unvergänglichkeit des Handelns an den geschwungenen

Autostraßen. Touristen legen einen kurzen Stopp ein, um nicht nur die runzeligen Gesichter unter den bunten

Kopftüchern oder filzigen Männerhüten zu bewundern, sondern sie sind sehr empfänglich für die seltene

Handwerkskunst der bestickten Tücher und geschnitzten Hölzer. Gern sehen es die Bergbewohner, wenn nicht mit

Scheinen gehandelt wird. Sie mögen die Dinge aus der zivilisierten Stadt und tauschen ihre von den Fremden begehrten

Sachen bereitwillig gegen Regenschirme, Taschelampen, Uhren und anderes ein.

Es ist soweit, die erste Tanzstunde unter Emilias Führung steht bevor. Schon zeitig hopst sie die knarrenden Stufen

empor und schreitet die Spiegelreihen sich selbst prüfend betrachtend ab. Die sechzehn Mädchen folgen ihr bald. Sie

sehen so reizend mit den abstehenden Zöpfen oder auch schon elegant geflochtenen Haarschwänzen aus, dass Emilia

diesen Eindruck ersteinmal genießt, bevor die ersten Kommandos die Arme und Beine der Schülerinnen in einen

synchronen Ablauf versetzten. Alle wissen natürlich, dass Emilia der Traum aller Träume ist und sind fieberhaft

gespannt, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber auch Emilia ist nicht frei von Lampenfieber und es setzt

Glückshormone bei ihr frei, als die Anspannung nach lässt und Platz macht für eine beschwingte Freude sich mitteilen

zu können, durch das was sie am besten beherrscht. Natürlich darf sie nicht zu weit vorpreschen. Die Denderowa hatte

ihr noch ans Herz gelegt, daran zu denken, dass kein Mädel älter als zehn Jahre ist und vorerst die Technik und danach

erst das Gefühl im Vordergrund steht. Wenn sie jedoch den staunenden Kleinen eine Übung demonstriert und wie eine

Daunenfeder vorbei schwebt, bleiben die Münder offen und jeder wird klar, welcher hohen Kunst sie sich opfern.

Die fünf Wochen sind für Emilia zu einem unerwarteten Erlebnis geworden. Die Freude an den Fortschritten der

Mädchen beteiligt zu sein, ihrem eigenen Körper Ruhe gegönnt zu haben, sind nicht nur eine Ablenkung der

angegriffenen  Psyche, sondern auch zum Quell für neue Angriffslust geworden, noch perfekter die Bühnenheldinnen zu

verkörpern, als sie dies ohne hin schon beherrscht. Sogar den Gang zum Orthopäden hat sie gewagt, um ein ab und

an schmerzendes Überbein am linken großen Zeh entfernen zu lassen. Sie hat es selbst nicht für möglich gehalten und

weiß nicht, ob es an der Entfernung des kleinen Übels oder der Änderung ihrer Stimmung liegt, jedenfalls tritt sie in den

Proben mit einer Leichtigkeit und Ausstrahlung auf, die jedem Ensemblemitglied neidlos ins Auge fallen.

Zu ihrem Glück hat sich die auserwählte Darstellerin für die Carmenrolle anders entschieden. Sie nimmt ein

Tourneeangebot durch die spanischen Metropolen an. Völlig beglückt und ohne gekränkte Divaallüren ist sie sofort zur

Übernahme der Hauptrolle bereit. Schon bei der Premiere lautet das diesmal einhellige Urteil der Experten und Kritiker,

noch nie eine so überzeugende, ja über die Rolle hinausgehende Carmendarstellung gefeiert zu haben. Monatelang wird

sie in den Himmel gehoben und kommt kaum zu der Überlegung, ob dies nun ihr Höhepunkt ist oder die Denderowa

recht hat und es erst der Anfang auf einem höheren Niveau wird.

Auch mit Daggi ist sie, soweit es die Zeit zu lässt, wieder ganz eng zusammen gerückt und sie telefonieren wegen des

geringsten Anlasses. Für Samstag hat Daggi sie überredet, sie doch auf die Preisverleihung des Jahres zu begleiten. Sie

hat extra eine zweite Einladung besorgt, was ja nicht so einfach ist, wenn die Besten ihres Fachs geehrt werden. Die

Kleiderdiskussion hätte fast alles platzen lassen, bis Daggi schimpfte und ein Machtwort sprach. Du mit deiner

Ballettfigur kannst doch jeden Fetzen anziehen, denk doch nur mal daran wie geschickt ich meine Rundungen

kaschieren muss. So endet das immer bei den beiden, dass die jammernde Emilia letztendlich der Glanzpunkt des

Abends ist und Daggi eben nur die Begleiterin der Angehimmelten. Schon als sie aus dem Taxi steigen und Daggi neben

der göttlich schreitenden Emilia auf dem roten Läufer sich um Schrittgleichheit bemüht, blitzen alle Kameras nur für die

langbeinige, schulterfrei Emilia auf.

Die Reihe der Kandidaten und Auserwählten ist lang und Daggi flüstert der gähnenden Freundin zu, warte es ab, den

richtigen Spaß gibt es erst anschließen beim Büfett und dem Ball bis in den Morgen. Auf die Bühne tritt eine Dame in

einem durchgehenden Silberkleid. Es ist Ruth von Mühe, die gefürchtetste Literaturkritikerin des Landes, raunt Daggi ihr

zu. Von der kleinen Tafel, die sie mitgebracht hat, liest sie über ihre Brille schielend die Laudatio für den Schriftsteller

des Jahres ab. Sie nennt ihn einen Kenner der Menschen, der nicht nur die Herzen erobert, sondern auch ihren

Verstand herausfordert. Sein Einfühlungsvermögen ist so tief in seiner Sprache verwurzelt, dass es nicht Wunder nimmt,

wenn überwiegend die weiblichen Leserinnen ihm zu Füssen liegen. Manche haben schon die Vermutung geäußert, ob

er denn nicht selbst eine Frau wäre. Der Ausgezeichnete erhebt sich unter starkem Beifall und tritt bedächtig ans

Podium. Er bedankt sich für die schmeichelhaften Worte, will aber nicht jetzt und hier die Hosen fallen lassen, um die

letzte Annahme zu widerlegen. Lächelnd fügt er hinzu, außerdem möchte ich das hohe Niveau der Veranstaltung nicht

mindern. Für ihn ist Männlein oder Weiblein nicht die entscheidende Frage. Er sieht keinen kausalen Zusammenhang

zwischen der Physis eines Menschen und einer bestimmten Psyche. Wichtig für seine Betrachtung und Wiedergabe

sind Menschen, die in der Lage und Willens sind etwas von sich preis zu geben, die aber auch tolerierend zu hören

können. Das ist es,  was wir in unserem Leben ansteuern sollten und nicht nur den Erfolg und das materielle Bestreben

darüber zu stellen. Schauen sie sich bitte heute Abend selbst einmal an. Da ist nicht an Schminke, Haargeel und dem

neuesten, möglichst auffälligen und einmaligen Outfit gespart worden. Ist aber diese Raffinesse wirklich wichtig! Und

wird das Äußere eines Menschen nicht erst durch sein Wesen schön?

Der stürmische, anhaltende Applaus dieser bedeutenden Prominenten aus den Medien, der Politik, dem Sport und

dem breiten Genre Kunst, die ja alle Vorbilder für die Masse sind und das Leitbild prägen, beweißt, dass sie wohl dem

Wahrheitsgehalt der Worte des gefeierten Schriftstellers zustimmen, aber selbst nicht über ihren Schatten springen

können.

Emilia lauscht noch den verklungenen Worten nach, sie fühlt sich hingezogen zu diesen freien menschlichen

Äußerungen. So versteht sie die nächste Preisankündigung kaum, als plötzlich ihr Name genannt wird. Ganz aufgeregt

fummelt Daggi an ihr herum. Du hast es geschafft, du wirst geehrt für die beste Theaterdarstellung des Jahres. Sie

versteht gar nicht,  wie so sie jetzt davor geht. Der unbekannte Redner drückt sie an sich, quetscht ihr einen feuchten

Schmatzer auf die geröteten Wangen und schiebt sie ans Mikrofon. Sie versucht sich zu fangen und denkt, bloß nicht

dem allgemeinen Dankesgeschwafel verfallen. Liebe Gäste ich kann hier nicht gleich allen danken an die ich denken

müsste. Wer weiß von welchem Vergessenen ich nachher eine Schelte bezöge. Ich kann aber auch nicht so unbelastet

meine Emotionen rüber bringen, wie der vor mir Preisgekrönte. Danken muss ich mir eigentlich selbst, denn keiner

weiß von ihnen, dass ich mich bereits in einem Tief wähnte und mein eigener Glücksschmied werden musste. Es freut

mich, dass mein Ausdruck des Tanzes,  in den ich Abend für Abend meine ganze Kraft hinein lege, ja etwas pathetisch

formuliert meine Seele verbrenne, ihre Anerkennung gefunden hat. Ich kann ihnen nur mit dem Versprechen danken,

dass ich nicht nachlassen werde in diesem Bemühen, ihnen die Welt der Illusionen, der Träume, des Schmerzes und der

Freude nahe zu bringen.

Daggi zupft sichtlich bewegt an ihrem Tüchlein herum und kann ihr Glück den Abend neben der viel gepriesenen Emilia

zu feiern, nicht verbergen. Viel zu zeitig klingelt das Telefon. Leicht knurrig muffelt Emilia, bist du das Daggi? Ja mein

Täubchen, beweg deine müden Glieder, wir wollten doch auf den Töpfermarkt. Schließlich hast du dir ja auch ein

persönliches Präsent von mir verdient. Untergehakt schlendern die beiden gut gestimmten Frauen von Stand zu Stand

und können es nicht lassen, überall ein Stück in die Hand zu nehmen und mit dem guten Gefühl,  über die glatte, aber

auch mal raue kühle Keramik gestrichen zu haben, zum nächsten Anbieter zu wechseln. Eine Figurengruppe genannt

der Freundeskreis, wie sie der Künstler charmant darauf hinweißt, hat das Wohlgefallen Emilias gefunden, die ansonsten

sehr sparsam in ihrer Wohnungsgestaltung vorgeht und lieber dem Grundsatz folgt, weniger ist mehr. Die vier Figuren in

dem Kreis haben das Format von niedlichen, dicklichen Lilliputs. Sie fassen sich auf die Schultern und scheinen einen

Tanz beginnen zu wollen. Die dicken Mädels mit ihren schweren langen geflochtenen Zöpfen sehen aus, als wären sie

gerade aus dem Heu kommend zu der Gruppe geeilt.

Daggi ist froh Emilia eine Freude bereiten zu können, sie weiß wie schwierig es ist, ihren Geschmack zu treffen. Im

Eckkaffe stoßen sie auf die neue Errungenschaft und die letzten glorreichen Erlebnisse von Emilia an. Daggi schlägt

einen ernsthafteren Ton an und fragt Emilia, ob sie mit diesem Erfolg ihm Rücken die Alte bleiben wird und selbst glaubt

es zu verkraften. Sie solle sich nichts vor machen, die Medien können jeden als Star aufbauen und genauso schnell

zerstören. Schnell fügt sie ergänzend hinzu, wie tief sie die wenigen Dankesworte bewegt haben und sie glaubt, der

richtige Weg für Emilia wäre es, nicht nur auf ihrer Künstlerinsel zu vereinsamen oder gar zu entfremden, sondern auch

noch andere Lebenswege parallel dazu auszuloten. Bestimmt hat meine Daggi auch schon die perfekte Lösung dafür,

scherzt die aufgeräumte Emilia. Wie gut sie sich kennen, denkt Daggi und schielt sie schelmisch von der Seite an. Du

könntest dein liebenswertes, menschliches Wesen doch auch mal außerhalb der Bühne präsentieren. Ich hätte da eine

geeignete Idee, die dir bestimmt auch Spaß machen würde. Wie wäre  es denn, wenn du als Gast in meine

Kindersendung auftrittst. Nicht dass ich an deiner Berühmtheit partizipieren will, aber der Umgang mit Kindern sorgt

immer dafür, dass man bodenständig bleibt, sich einen kritischen, vor-urteilsfreien Blick bewahrt und natürlich selbst

jung bleibt. Ohne diesen Umgang hätte ich die Schrecknisse von Kurdistan bestimmt nicht verkraftet oder viel länger

dazu gebraucht.

Meine liebe Daggi, du weißt oder weißt es vielleicht auch nicht so heftig, wie froh ich über unsere wertvolle Freundschaft

bin. Sie macht mich richtig glücklich und kein Erfolg, der bei mir auch schwer erarbeitet und nicht hochgejubelt ist, kann

mir diese Empfindungen nehmen. Damit du aber siehst, dass es nicht nur Worte sind und ich dir für deine Besorgnis

danken möchte, verlass dich drauf, ich komme.

Wortlos verlassen sie das Lokal und gehen versonnen den Boulevard entlang, ohne diesmal auf die Schaufenster zu

achten, mit dem freudigen Gefühl das Leben noch vor sich zu haben.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung für private und gewerbliche Zwecke ist nicht erlaubt.